Drogen zu medizinischen Zwecken
- 6. Oktober 2020
- Allgemein
So, sagt Thorsten Kolisch, „jetzt kommt unser Prunkstück. Der Tresor. Und in dem Tresor ist noch einmal ein Tresor.“ Seine Worte hallen im Rohbau.
Wenn die Blüten für Deutschland geerntet, getrocknet und verpackt sind, dann sollen sie zwischen diesen doppelten Wänden lagern, bis der Staat sie in die Apotheken schickt. „Wie in einer Bank“, sagt Hendrik Knopp, er steht im nackten Türrahmen, da werde noch eine Panzertür eingebaut, wie aus alten Filmen. „Die Dresdner wären da nicht reingekommen.“ Er meint die Juwelenräuber, die das Grüne Gewölbe geplündert haben. Wobei hier im deutschen Norden keine Geschmeide und Edelsteine liegen werden, auch keine Goldbarren oder Geldbündel, sondern Pflanzen. Cannabis. In den Blüten der Pflanze ist der Gehalt der psychoaktiven Substanzen am höchsten.
Neumünster-Süd, eine Fahrstunde nördlich von Hamburg. Im Industriegebiet haben sich hauptsächlich Logistiker mit ihren Hallen angesiedelt, doch gegenüber vom Milchtrockenwerk wächst ein Hochsicherheitstrakt.
Hendrik Knopp und Thorsten Kolisch haben ihren SUV im Schlamm geparkt, nun führen sie durch diesen zweistöckigen Neubau von der Größe zweier Fußballfelder. Aus der Distanz betrachtet ist dies eine stinknormale Baustelle mit Planierraupen, Bagger, Lieferwagen, Krach. Sofern einem nicht gleich die Rundumvideoüberwachung auffällt – und am Eingang die Scheibe, auf der an diesem grauen Vormittag noch ein roter Aufkleber des Herstellers pappt: „Angriffsseite. Attack Side. Face Attaque“. Panzerglas.
Kiffen ist hierzulande meist illegal, in Cannabis zu investieren aber nicht. Jetzt gibt es den ersten ETF – für Anleger, die chillen wollen, ist er aber nichts.
Bauherr ist die kanadische Firma Aphria, die Anbau und Produktion „von sicherem, sauberem und reinem Cannabis in pharmazeutischer Qualität vorantreibt“, wie es auf der deutschen Homepage heißt. Knopp ist Geschäftsführer und Kolisch General Manager der deutschen Filiale. Sie wollen das Kraut in staatlicher Mission bald auch hierzulande so gedeihen lassen, dass es Kranken helfen kann, denn das ist jetzt unter Auflagen erlaubt. Da sind ein paar Details zu beachten, die im Gartenbau sonst eher nicht vorkommen.
Für Gewächshäuser genügen in der Regel Schlösser. Und ja, Cannabis wächst auch ungezwungen in Blumentöpfen oder Hinterhöfen, zuweilen schaut dort allerdings die Polizei vorbei. Hier dagegen entsteht ein Bunker für die ganz legale Variante im Auftrag der Nation. Mit 400 Kameras, Nato-Stacheldraht, Wärmebild- und Bodendetektoren sowie einem Kontrollsystem namens Indoor Geofencing Technology. Hendrik Knopp klopft auf eine Wand. „Stahlbeton. 24 Zentimeter.“
Seit bald drei Jahren dürfen Deutschlands Ärzte ihren Patienten bei schweren Erkrankungen außer verarbeiteten Cannabisarzneimitteln auch getrocknete Cannabisblüten und Cannabisextrakte verschreiben. „In kontrollierter Qualität“, wie das Bundesgesundheitsministerium erläutert, „in Apotheken“ und „ohne dass dabei die Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs gefährdet wird“. Cannabis kann dazu beitragen, Schmerzen zu lindern oder Symptome wie Übelkeit und Appetitlosigkeit bei Krebskrankheiten, auch in der Palliativmedizin. Gemahlen oder als Öl, als Tee oder inhaliert.
Als Droge gilt Cannabis in Deutschland aber noch immer. Deshalb sollen die Fenster dieser Großplantage schusssicher sein. Deshalb wird man Sicherheitsschleusen passieren müssen, wenn es so weit ist – noch in diesem Jahr soll der Betrieb starten. Vorläufig bohren und sägen Handwerker, während diese beiden Männer durchs Gebäude laufen und erzählen. „Wir sind ja Pioniere“, sagt Thorsten Kolisch.
„Einer musste ja anfangen.“ Mit dem Kraut hatten die zwei früher wenig am Hut, man stellt sie sich auch nicht zwingend mit Joint vor. Um Marihuana, Hasch und Kiffen geht es in diesem Fall sowieso nicht, es geht um Cannabis als Medikament. Hendrik Knopp: Ende vierzig, sanfte Stimme, feiner Humor, er war früher Anwalt. Knopp war auch mal bei RTL und bei einem Anbieter von Sportwetten und erfand eine Pokershow mit Stefan Raab. Außerdem singt er und spielt Gitarre, Künstlername Heinrich von Handzahm, zu seinem Repertoire gehören Lieder wie „Psychogarten“ und „Indianer“. Mitstreiter Thorsten Kolisch, 50, ist Ingenieur und verdiente sein Geld mit Computerspielen, ehe er das Fach wechselte. Denn es kam der Januar 2017: Der Bundestag beschloss, Cannabis als Medizin zuzulassen.
Cannabis auf Rezept, bezahlt von der Krankenkasse. Neue Regeln, neues Spiel. Hendrik Knopp, der ehemalige Pokermann, griff zu. „Da kommt was Großes auf Europa zu“, hätten ihm Freunde prophezeit. Er begann zu planen, allein mit Notebook, im Keller. Thorsten Kolisch stieg ein in das Start-up für Cannabis.
Knopp flog nach Kanada und stand drüben mit weißem Kittel in einem Gewächshaus, in dem Cannabis für medizinische Zwecke angebaut wird. Die Verantwortlichen dort hatten von seinen Ideen gehört und ihn eingeladen. Er wurde Leiter der deutschen Niederlassung dieser Firma, inzwischen übernommen von einem Marktführer aus Kanada: Aphria, sieben Jahre alt, hat an der Börse einen Milliardenwert. In Kanada brach ein Cannabishype aus wie ein Goldrausch, als Premier Justin Trudeau die Legalisierung durchsetzte. Seit 2018 dürfen erwachsene Kanadier Hanf in kleineren Mengen kaufen, besitzen und konsumieren. Vorher hatten bereits Uruguay und einige US-Bundesstaaten ähnlich entschieden.
Die Niederlande haben längst ihre Coffeeshops. Deutschland probiert fürs Erste nur die medizinische Variante. Hendrik Knopp und Thorsten Kolisch sind von den Heilkräften überzeugt, sie absolvieren täglich eine Art Biocrashkurs, und sie wissen: Deutsche Apotheken brauchen mehr Cannabis, es gibt Tausende potenzieller oder tatsächlicher Kunden. Für Ärzte genehmigter Stoff muss bislang praktisch komplett importiert werden, aus Kanada, Holland und Dänemark. In Kanada konnten Gewächshäuser für Tomaten oder Paprika flugs in Gewächshäuser für Cannabis umfunktioniert werden. In Deutschland ist es komplizierter. Thorsten Kolisch und Hendrik Knopp ließen für ihren Arbeitgeber zunächst eine Immobilie in Bad Bramstedt in ein Bollwerk für fertige Cannabis-Importe umbauen. Dann erwarben sie für ihren Konzern das Grundstück in Neumünster.
Von 2018 an schrieb das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 13 Lizenzen für den Anbau von Cannabis aus, im Frühjahr 2019 bekam Aphria fünf dieser Lizenzen. Das entspricht 1000 Kilo Cannabis pro Jahr, zunächst gültig für vier Jahre. Rechnet man einen Preis von zwanzig Euro pro Gramm, dann ergibt das eine hohe zweistellige Millionensumme. Kolisch und Knopp nutzten kanadisches Kapital der Aktionäre – und setzten auf Risiko.
Fotos aus dem Jahr 2018 zeigen das zukünftige Firmengelände als Kuhweide, nur 18 Monate sollen es von der ersten Planung bis zum Produkt sein. „Versuchen Sie das mal in Deutschland“, sagt Thorsten Kolisch. Die Bewerber fingen deswegen bereits zu bauen an, bevor sie überhaupt den Zuschlag von der Behörde bekommen hatten, sie waren sich ihrer Sache sicher. Notfalls hätten sie vorübergehend halt Chilis für Labore gepflanzt. Oder Safran und Vanille, sagen sie.
Warum starten sie ihren Cannabisversuch hier? „Wenn wir in München wohnen würden, hätten wir sicher auch dort eine Gemeinde gefunden, die uns unterstützt“, glaubt Hendrik Knopp. Aber sie wohnen in Hamburg und wurden in der Umgebung unverkrampft empfangen. „Oh Gott, Cannabis“, hätten sie zwar mancherorts zu hören bekommen. In Neumünster allerdings habe der Bürgermeister (CDU) rasch verstanden. Es gehe „nicht um Marihuana für Altona“ beruhigte beim Richtfest im Sommer 2019 der Kieler Wirtschaftsminister Bernd Buchholz von der FDP und schwärmte in seinem Videoblog von medizinischem Cannabis, was sich wohl auch für die Region rechnet. „Das ist eine neue Art, innovativ ein Unternehmen ins Land zu holen.“
In Schleswig-Holstein regiert Jamaika, da drängt sich manchem natürlich die Verbindung zu Cannabis auf, Knopp und Kolisch kennen die Gags. Ob sie Sponsoren des THC Neumünster würden, bekamen sie auch mal zu hören, das THC steht für den örtlichen Tennis- und Hockey-Club – und eben für eine wesentliche Substanz von Cannabis. Doch allmählich normalisiert sich die Betrachtung. „Wir bauen für die Bundesrepublik Deutschland an“, sagt Kolisch. „Cannabis made in Germany“, sagt Knopp. „Ein absolutes Leuchtturmprojekt.“ Sie bauen an, der Staat verkauft.
Eine noch leere Raumflucht, wieder Stahlbeton, 24 Zentimeter, selbst die Luftschächte an der Decke sind vergittert. Auf Mineralwolle wird das Cannabis wachsen, drei Sorten, getrennt durch Luftschleusen, je nach Gehalt der Wirkstoffe THC und CBD. Drei Monate lang dauert das Wachstum, vier bis fünfmal pro Jahr wird geerntet. Afghanistan hat unter freiem Himmel nur zwei jährliche Ernten zu bieten. Temperatur, Licht, Luft, Wasser und Dünger sollen in der Anlage immer gleich sein, 365 Tage lang, für verlässliche Werte.
Um sich für die Legalisierung von Cannabis stark zu machen, nahm ein 20-jähriger Mann im US-Bundesstaat Tennessee sogar eine Gefängnisstrafe in Kauf.
Knopp und Kolisch berichten von Epoxidbeschichtung, GACP-Bereich (Good Agricultural and Collection Practice), THC-Wert, LED. „Wir simulieren die Natur“, sagt Thorsten Kolisch. Er meint, das Konzept dieses Hightech-Bunker-Treibhauses ließe sich auf diese Weise auch exportieren, „auch an den Nordpol oder in die Wüste“. Gleich nebenan wäre Platz für weitere Module. Falls Gesetzgeber und Märkte in Zukunft noch mehr Cannabis wollen.
Die Gefahr eines Überfalls haben sie ausgerechnet. Sieben bis zehn Minuten hätte ein Angreifer, wenn das Alarmsystem am Nato-Zaun anschlägt, bis die Polizei eintrifft. So die Kalkulation. Sie haben sich auch überlegt, dass der Eindringling danach Starkstrom bräuchte und mit einem Diamantbohrer ein Loch in den Stahlbeton bohren müsste, das dauert. Alles nicht übermäßig wahrscheinlich, Gras ließe sich zum Beispiel im Hamburger Schanzenpark einfacher besorgen. Der schlimmste Feind sind sowieso nicht Diebe. Sondern Keime. Alles soll so hygienisch sein wie bei Pharmakonzernen üblich.
Natürlich wird da ein Spezialgärtner gebraucht, hier heißt er „Mastergrower“. Eine noch neue Disziplin in Deutschland. Es gab etliche Bewerbungen, oft mit dem Argument reicher Selbsterfahrung, berichtet Hendrik Knopp: „Das half uns nicht wirklich weiter.“ Sie suchten einen seriösen Profi und fanden einen Niederländer, der zwar keine Erfahrung mit Cannabis besaß, aber seit 40 Jahren gärtnert und Tomaten in der Wüste zur Reife gebracht hat. Nach dem Setzen darf bis zur Ernte nur er das Cannabis in Neumünster pflegen. Weitere Stellen im Betrieb werden besetzt, Anwärter brauchen ein tadelloses Führungszeugnis.
„Letztendlich“, findet Hendrik Knopp, „ist Cannabis eine Pflanze wie jede andere.“ Aber beim Elternabend in der Schule nennt man sich als Cannabisfarmer im Zweifel lieber Medizinpharmaunternehmer. Man könnte jetzt über den Umgang mit Drogen debattieren, über Hoffnungen und Ängste. Man könnte feststellen, dass Verbote nie funktioniert haben, dass der Schwarzmarkt boomt, auch bekommt das Zeug nicht jedem. Cannabis sei hochkomplex, in all seinen Facetten noch gar nicht erforscht, sagt Thorsten Kolisch. „Wir liefern das, worauf die Gesellschaft sich geeinigt hat“, in Deutschland vorläufig Cannabis für Kranke. Für Hendrik Knopp ist es der Anfang vom Ende der deutschen Prohibition, aber er weiß: Cannabis sei weniger Heilmittel als Hilfsmittel, „die Dosis macht das Gift“. Wie beim Alkohol, nur kämen Besäufnisse und Weinbauern besser weg.
Im Herbst sollen die ersten Setzlinge in Klimaboxen aus dem Mutterhaus in Kanada eingeflogen und dann vom Hamburger Flughafen nach Neumünster gebracht werden, zart und bewacht. Auch der Zoll wird genau hinschauen, damit keine einzige Pflanze weniger ankommt als abgeschickt wurde. „Tausende aufstrebende junge Pflanzen für ein Leben in Deutschland“, sagt Hendrik Knopp. Vorher wollen die Macher die Reise als Probelauf simulieren, sicher ist sicher. Wenn alles klappt, soll es im vierten Quartal 2020 losgehen und im Winter die erste Cannabisration geerntet werden.
Man werde von draußen nichts sehen und riechen, heißt es, Kohlefilter sollen den Geruch im Tresor halten. Auch würden keine Laster mit bunten Motiven von gezackten Blättern vorfahren, sagen die Betreiber. Doch sie wollen zumindest die deutsche Premiere inszenieren, unter den Augen der Behörden. Knopp sagt, dann müsse die Pflanze liefern.